Donnerstag, 9. Februar 2017

Weißrussland oder Belarus – (k)eine politische Frage?

 Weißrussland oder Belarus?
 Minsk oder Mensk?
 Oktjabrskaja oder Kastrytschnizkaja?

Ich soll einen Artikel über meine Heimat schreiben, aber ich komme nicht voran. Der Grund: Bereits bei der Wahl der Begriffe fallen mit tausende Fragen ein. Ohne sie zu beantworten, kann ich mich nicht auf den eigentlichen Inhalt konzentrieren. Na gut, dann versuche ich mal, sie zu klären. In erster Linie für mich selbst. Meine Muttersprache ist Russisch. So ist das nun mal. Ich komme aus dem Osten von Belarus, wo die absolute Mehrheit der Bevölkerung (auch meine Eltern, die mir die Sprache beigebracht haben) Russisch spricht.

Belarussisch lernte ich erst in der Schule. 1991 – frisch nach dem Erlangen der Unabhängigkeit – bekamen wir Erstklässler die frisch gedruckten Schulbücher auf Belarussisch. Die erste Reaktion war: Ablehnung. Im Mathe-Unterricht packten wir erstmal die belarussisch-russischen Wörterbücher aus, um die Aufgaben zu entziffern.

Die Postkarten "Schweige nicht auf Belarussisch", auf denen belarussische Begriffe erklärt werden


Ich übertreibe ein wenig. Viele belarussische Wörter waren mir schon bekannt. Vor allem von meinen Großeltern, die auf dem Land lebten. Sie sprachen Trasjanka, ein Dialekt, eine Mischung aus Russischem und Belarussischem. Belarussisch galt bei unseren Eltern, viele von denen aus den Dörfern in die Städte gezogen sind, als bäurisch und uncool. So war es zunächst auch bei uns. Bis wir Teenies wurden und uns von den Eltern emanzipieren wollten.

In der Abschlussklasse (das muss 2003 gewesen sein) wagten wir ein Experiment. Wir gingen nach dem Unterricht in der Stadt Mogiljow (Mahiljou?) einkaufen und sprachen die Verkäuferinnen auf Belarussisch an. Das Experiment ist gescheitert. Weil die Verkäuferinnen unsere Anstrengungen ignorierten und mit uns nur Russisch sprachen. Weil wir selbst nicht gut genug Belarussisch sprachen, um uns souverän darin unterhalten zu können.
So sieht Mogiljow, die Stadt meiner Jugen, heute aus (Januar 2017)


Wie Schicksal und Ljudmila Putina es wollten, ging ich kurz darauf zum Studium nach Russland (da ich bei einem Wettbewerb für die russische Sprache gewonnen habe, deren Schirmherrin die damalige Ehefrau von Putin war). Die Belarussisch-Frage verschwand erstmal von meiner persönlichen Agenda. Es hat mich nicht gestört, wenn jemand auf Russisch „Белоруссия“ (die alte sowjetische Bezeichnung; dt. Äquivalent: Weißrussland oder Belorussland) statt „Беларусь“ (Belarus, der Name des unabhängigen Staates nach der UdSSR-Auflösung) sagte. Jetzt ist das anders. Es nervt mich, wenn ich „Белоруссия“ höre.

Für mich ist es selbstverständlich, dass Belarus ein eigenständiger unabhängiger Staat ist. Aber ich spreche weiterhin meistens Russisch. Ein bisschen ist es doch so: Belarussisch ist uns zu heilig, um es im Alltag zu verwenden. Und wenn wir ehrlich sind: Wir sind zu faul und bequem, um es anständig zu lernen und konsequent zu verwenden. Dabei bewundere ich Menschen, die es geschafft haben und spreche mit denen auch Belarussisch (auch wenn das nicht fehlerfrei ist).

Diese scheinbar unbedeutenden sprachlichen Fragen sind keineswegs unwichtig. Denn sie spiegeln den Kern des Problems und das Thema meines ungeschriebenen Artikels wider: Belarus am Scheideweg zwischen Russland und der EU.

Zurück zu meinem Artikel also. Ich schreibe „Belarus“ (und bin bereit, dem Redakteur geduldig zu erklären, warum ich es tue), aber „Minsk“ und „Oktjabrskaja“ (weil man die geografischen Namen in russischer Schreibweise auf Karten und Schildern schneller findet).

Ich hoffe, ich kann weiterhin Belarussin sein und Russisch sprechen. Ich hoffe, dass die äußeren Umstände mich nicht dazu zwingen werden, mich zwischen den beiden Sachen endgültig entscheiden zu müssen. Denn dann könnte passieren, dass meine alten Freunde und ich auf unterschiedliche Seiten gelangen. Wie es mit den russischen Verwandten passiert ist, mit denen wir unterschiedliche Antworten auf die Krim-Frage haben.


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