Sonntag, 18. Juni 2017

Freundliche Übernahme, oder Wie die Russen ein deutsches Hotel in der Türkei erobern

Erdogan und Putin sind wieder Kumpels. Die Beziehungen zwischen Erdogan und Merkel sind schlechter denn je. Was bedeutet das für ein All-Inclusive-Hotel auf der türkischen Riviera?

„Heute ist ein schöner Tag. La la la la la...“ Mit diesem Lied beginnt jeder Morgen in unserem Hotel im türkischen Städtchen Okurcular. Das Animationsteam stellt sich an den Rand des großen Pools mit türkisfarbenem Wasser. Die sonnengebräunten Jungs in weißen T-Shirts strecken ihre Arme, machen die Fäuste und singen dabei: „Und ich flieg, flieg, flieg, wie ein Flieger, bin so stark, stark, stark wie ein Tiger...“ Die Gäste machen nach, aber singen nicht mit. Sie sprechen kein Deutsch, sondern Russisch.



Die Tafel im Wellness-Center sind auf Deutsch. Das einstündige Wohlfühl-Programm mit Hamam und Massage kostet 50 Euro. Der Manager im weißen Kittel erzählt, dass während im letzten Jahr circa 90 Prozente der Gäste im Hotel die Deutschen und nur 10 Prozent die Russen waren, ist es in diesem Jahr genau umgekehrt. Schuld daran seien seiner Meinung nach Frau Merkel, die sich mit Erdogan gestritten hat, und die Journalisten, die schlecht über die Türkei schreiben.

Der Türke vom Bodensee spricht akzentfreies Deutsch – und inzwischen ein paar Worte Russisch: „Pjat minut test massasch besplatno.“ Er bietet zwei Damen, die gerade ins Wellness-Center reingekommen sind, eine kostenlose fünf minütige Massage zur Probe an. „Wir kommen später“, sagen die Frauen auf Russisch und verschwinden. Das Geschäft läuft scheinbar nicht so gut. Die russischen Gäste wollen nicht so viel Geld ausgeben, auch wenn Präsident Putin behauptet, die Wirtschaftskrise sei vorbei. Hauptsache, er hat das Verbot aufgehoben, einen Urlaub in der Türkei zu machen. Nachdem Erdogan sich zähneknirschend für den Abschuss des russischen Bombers im November 2015 bei ihm entschuldigt hatte.

Single-mit-Kind-Index 

Über die Kaufkraft der Russen klagt auch der Kiosk-Besitzer im Hotel: „Sie kaufen im Unterschied zu den Deutschen sehr wenig.“ In Anlehnung an den weltberühmten Big-Mac-Index könnte man in unserem Hotel den Single-mit-Kind-Index einführen. Während ein Elternteil mit einem Kleinkind aus Deutschland für eine Woche Pauschalurlaub 700 Euro zahlt, bekommen Singles mit Kind aus Russland oder Belarus für die gleiche Summe 10 Tage All-Inclusive-Urlaub. Eine ukrainische Mutter mit Kind zahlt für eine Woche nur 450 (US-Dollar wohlbemerkt!).


Im Miniclub wurden zu Beginn dieser Saison neben einer deutschsprachigen Babysitterin auch eine russische Kollegin eingestellt. Die deutschen Mütter schielen auf die russischen Mütter, deren Kinder oft Zeichentrickfilme gucken. (Auf einem Tablet! Ohne Kopfhörer!! Beim Abendessen!!!) Die Russinnen lästern ihrerseits über die Deutschen, die im Beisein ihrer Kinder rauchen. (Sie kennen einfach den Preisunterschied für Zigaretten in Deutschland und der Türkei nicht).

Im Internet loben die Russen das Hotel für „die deutsche Ordnung und Organisation“. Unten den deutschen Bewertungen lese ich: „Das einzige Manko ist, dass die russischen Gäste sich echt oft laut und daneben benommen haben.“

Partystimmung auf Russisch

Vor der Abendshow bietet der Moderator zuerst die Deutschen zu klatschen, danach die Türken und die Russen. Ein Teil der Zuschauer hat bei keinem mitgeklatscht. Das sind Polen, Weißrussen und Ukrainer, die der türkische Moderator wohl in die Gruppe „Russen“ mit eingegliedert hat. Sie beschweren sich nicht. Auch Wortschlachten am Strand zwischen Russen und Ukrainern sind Geschichte. Nach drei Jahren Krieg sind die Ukrainer wohl zu müde. Und die Begeisterung der Russen über die „Wiedereingliederung“ der Krim hält sich inzwischen in Grenzen. Nur das ein oder andere Sankt-Georg-Bändchen, das am Koffer oder Kinderwagen angebunden ist, verrät die Einstellung seines Besitzers.

Nach der Abendshow geht die Party an der Pool-Bar weiter. Viele russische Gästen können der türkischen Gastfreundschaft nicht wiederstehen. Wie auch, wenn Alkohol bis zur späten Stunde kostenlos und reichlich vorhanden ist. Wenn in der Bar ein Schlager von Juri Schatunow aus den späten 80ern läuft. Der Tag in unserem Hotel beginnt auf Deutsch – und endet auf Russisch.


          

Sonntag, 12. Februar 2017

5 Gründe für eine Reise nach Belarus

Seit dem 12. Februar dürfen die Bürger aus 80 Staaten nach Belarus ohne Visum einreisen, darunter sind alle EU-Staaten und die USA. Die visafreie Einreise ist nur über den Minsker Flughafen erlaubt. Der Aufenthalt darf maximal 5 Tage dauern.

Es gibt mindestens 5 Gründe, warum man nach Belarus reisen sollte...

1. NATUR

In Belarus kann man wie kaum anderswo in Europa die unberührte Natur entdecken - egal ob zu Fuß, mit Kajak oder Fahrrad.
Die Schwebebrücke durch den Fluss Pronja im Dorf Petuchowka (Juli 2015)


Kajak-Tour durch Pronja und Basja (Juli 2015)



2. KULTUR

Das Kulturprogramm ist in Belarus vielfältig und relativ günstig. Bei Familien mit Kindern sind der Gorki-Park und der Staatszirkus in Minsk sehr beliebt.

Das Riesenrad im Gorki-Park in Minsk (Mai 2015)

Der Staatszirkus in Minsk (Januar 2017)













3. UNDERGROUND

Noch viel spannender als die "offizielle" Kultur sind die Veranstaltungen der Underground-Szene. Um sie zu entdecken, muss man allerdings die Orte kennen, wo sie sich trifft. Z.B. die Adresse und den Spielplan von "Belarus Free Theater" findet man in keiner Broschüre. Vorsicht! Bei den Aufführungen gibt es ab und zu Polizeirazzien...

Straße Oktjabrskaja (Kastrytschnizkaj) ist die Hipstermeile von Minsk (Januar 2017)
Die Bar "Hooligan" mit Kultstatus in Minsk (Januar 2017)


Schriftsteller Artur Klinau in der Buchhandlung "Lohvinau" in Minsk (Januar 2014)
Ein Konzert von Polina Respublika in Minsk (Dezember 2014)
"Belarus Free Theater" ist ein preisgekröntes Projekt, ein Teil der Truppe lebt inzwischen in London (September 2010)

4. SOWJETISCHES ERBE

Belarus ist wohl das größte UdSSR-Museum unter freiem Himmel. Die Artefakten aus der sowjetischen Zeit findet man nicht nur in den Museen, sondern auch auf der Straße und in den Köpfen von Menschen...

"Verteidigungsmuseum" ist ein privates Open-Air-Museum in einem Dorf im Osten von Belarus (Juli 2015)
Die Staatssymbole sind immer noch sowjetisch (Sommer 2010)

Die Ehrenwache am Siegestag in der Stadt Oktjabrski (Mai 2015)



5. GASTFREUNDSCHAFT

Auf den ersten Blick können die Belarussen ernsthaft und sogar unfreundlich wirken. Wer sie besser kennenlernt, erfährt die sprichwörtliche Gastfreundschaft.

Eine Oma verkauft ihre selbst angebauten Gurken  neben der Autobahn Mogiljow-Minsk (Sommer 2013)
Typisches Silvester-Essen: Salat Olivje, Brot mit Lachskaviar, Sowjetischer Sekt
 


Donnerstag, 9. Februar 2017

Weißrussland oder Belarus – (k)eine politische Frage?

 Weißrussland oder Belarus?
 Minsk oder Mensk?
 Oktjabrskaja oder Kastrytschnizkaja?

Ich soll einen Artikel über meine Heimat schreiben, aber ich komme nicht voran. Der Grund: Bereits bei der Wahl der Begriffe fallen mit tausende Fragen ein. Ohne sie zu beantworten, kann ich mich nicht auf den eigentlichen Inhalt konzentrieren. Na gut, dann versuche ich mal, sie zu klären. In erster Linie für mich selbst. Meine Muttersprache ist Russisch. So ist das nun mal. Ich komme aus dem Osten von Belarus, wo die absolute Mehrheit der Bevölkerung (auch meine Eltern, die mir die Sprache beigebracht haben) Russisch spricht.

Belarussisch lernte ich erst in der Schule. 1991 – frisch nach dem Erlangen der Unabhängigkeit – bekamen wir Erstklässler die frisch gedruckten Schulbücher auf Belarussisch. Die erste Reaktion war: Ablehnung. Im Mathe-Unterricht packten wir erstmal die belarussisch-russischen Wörterbücher aus, um die Aufgaben zu entziffern.

Die Postkarten "Schweige nicht auf Belarussisch", auf denen belarussische Begriffe erklärt werden


Ich übertreibe ein wenig. Viele belarussische Wörter waren mir schon bekannt. Vor allem von meinen Großeltern, die auf dem Land lebten. Sie sprachen Trasjanka, ein Dialekt, eine Mischung aus Russischem und Belarussischem. Belarussisch galt bei unseren Eltern, viele von denen aus den Dörfern in die Städte gezogen sind, als bäurisch und uncool. So war es zunächst auch bei uns. Bis wir Teenies wurden und uns von den Eltern emanzipieren wollten.

In der Abschlussklasse (das muss 2003 gewesen sein) wagten wir ein Experiment. Wir gingen nach dem Unterricht in der Stadt Mogiljow (Mahiljou?) einkaufen und sprachen die Verkäuferinnen auf Belarussisch an. Das Experiment ist gescheitert. Weil die Verkäuferinnen unsere Anstrengungen ignorierten und mit uns nur Russisch sprachen. Weil wir selbst nicht gut genug Belarussisch sprachen, um uns souverän darin unterhalten zu können.
So sieht Mogiljow, die Stadt meiner Jugen, heute aus (Januar 2017)


Wie Schicksal und Ljudmila Putina es wollten, ging ich kurz darauf zum Studium nach Russland (da ich bei einem Wettbewerb für die russische Sprache gewonnen habe, deren Schirmherrin die damalige Ehefrau von Putin war). Die Belarussisch-Frage verschwand erstmal von meiner persönlichen Agenda. Es hat mich nicht gestört, wenn jemand auf Russisch „Белоруссия“ (die alte sowjetische Bezeichnung; dt. Äquivalent: Weißrussland oder Belorussland) statt „Беларусь“ (Belarus, der Name des unabhängigen Staates nach der UdSSR-Auflösung) sagte. Jetzt ist das anders. Es nervt mich, wenn ich „Белоруссия“ höre.

Für mich ist es selbstverständlich, dass Belarus ein eigenständiger unabhängiger Staat ist. Aber ich spreche weiterhin meistens Russisch. Ein bisschen ist es doch so: Belarussisch ist uns zu heilig, um es im Alltag zu verwenden. Und wenn wir ehrlich sind: Wir sind zu faul und bequem, um es anständig zu lernen und konsequent zu verwenden. Dabei bewundere ich Menschen, die es geschafft haben und spreche mit denen auch Belarussisch (auch wenn das nicht fehlerfrei ist).

Diese scheinbar unbedeutenden sprachlichen Fragen sind keineswegs unwichtig. Denn sie spiegeln den Kern des Problems und das Thema meines ungeschriebenen Artikels wider: Belarus am Scheideweg zwischen Russland und der EU.

Zurück zu meinem Artikel also. Ich schreibe „Belarus“ (und bin bereit, dem Redakteur geduldig zu erklären, warum ich es tue), aber „Minsk“ und „Oktjabrskaja“ (weil man die geografischen Namen in russischer Schreibweise auf Karten und Schildern schneller findet).

Ich hoffe, ich kann weiterhin Belarussin sein und Russisch sprechen. Ich hoffe, dass die äußeren Umstände mich nicht dazu zwingen werden, mich zwischen den beiden Sachen endgültig entscheiden zu müssen. Denn dann könnte passieren, dass meine alten Freunde und ich auf unterschiedliche Seiten gelangen. Wie es mit den russischen Verwandten passiert ist, mit denen wir unterschiedliche Antworten auf die Krim-Frage haben.


Sonntag, 2. Oktober 2016

Mein 10-jähriges deutsches Jubiläum

Heute vor zehn Jahren – am 2. Oktober 2006 – bin ich nach Deutschland gekommen. Ich bin am Flughafen Düsseldorf gelandet und wurde von einer netten deutschen Studentin abgeholt. Die Bahnstation und die S-Bahn schienen sehr sauber (wer über die Deutsche Bahn schimpft, muss mal mit der russischen „Elektritschka“ fahren). Die Fahrkarten fand ich schrecklich teuer (finde ich immer noch). Das Wetter war ziemlich mies (wodurch ich mich gleich wie daheim in St. Petersburg fühlte).

In Dortmund angekommen, machte ich eine Bekanntschaft mit den vier weißen Wänden, in denen ich die nächsten 6 Monate (ein Austauschsemester) verbringen sollte. Pardon, die nächsten 5 Monate. Ich bestand bei der Ausländerbehörde darauf, dass die Dauer meiner Aufenthaltsgenehmigung auf 5 (und nicht wie in der Einladung stand auf 6) Monate beschränkt wird. Schließlich hatte ich bereits eine Rückfahrtkarte nach Russland gekauft. Die Beamtin guckte mich verdutzt an. Egal, dachte ich, ich werde die eh nie im Leben mehr sehen (stimmt nicht, wir sehen uns bereits einen Monat später, wenn meine Tasche samt Reisepass, Handy und Schlüssel bei Deichmann geklaut wird).

Auf dem Campus der Uni Dortmund im Oktober 2006 - mit der historischen Tasche, die wenige Tage darauf geklaut wird


Noch hatte ich aber mein Zimmerschlüssel und konnte mir meine kahlen Wände etwas genauer anschauen. Nicht mal Gardienen gab es am Fenster. In Petersburg teilte ich 10 Quadratmeter mit einer anderen Studentin. In Dortmund hatte ich gefühlt das Doppelte für mich allein. Außerdem ein eigenes Bad. In Petersburg teilten wir ein Bad, eine alte Herdplatte und einen abgeschriebenen Kühlschrank zu fünft. In Dortmund gab es eine Küche für den ganzen „Flur“ mit einem Riesenkühlschrank, in dem jeder ein Fach hatte. Dazu einen passenden Schlüssel. Plus ein Schlüssel fürs Fach im Schrank, in dem man Lebensmittel verstaute. Es war also unmöglich, sich bei dem Nachbar etwas „auszuleihen“, falls man vergessen hat einzukaufen. :)

Die Erasmus-Clique in Münster
Der 2. Oktober 2006 war zwar ein Montag. Aber der nächste Tag war der 3. Oktober und somit ein Feiertag, an dem die Geschäfte in Deutschland geschlossen sind. Ich kaute mir eine Pizza für ca. 10 Euro aus einem nahe liegenden Restaurant. Diese ungeplanten Ausgaben musste ich arme Studentin  erstmal verdauen. Da klopfte es an meiner Tür. „Hallo. Wir gehen gleich in die Kneipe im Keller. Kommst du mit?“ sagte eine nette Französin und ein lustiger Pole zu mir. Das war der Beginn einer Freundschaft, die bis heute besteht. Ich bin ganz froh, dass sich unsere  französisch-kamerunisch-polnisch-russisch-belarussich-spanisch-belgisch-deutsche Clique regelmäßig trifft und durch Nachwuchs immer größer und bunter wird.

Zusammen haben wir sehr viel erlebt: den ersten Karneval in Köln, den Weihnachtsmarkt in Aachen, das Wochenend-Trip nach Amsterdam, die unendliche Reise ans Meer (danke der Bahn für Schönes-Wochenende-Ticket) und die unzähligen Partys in den Studentenkneipen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich im Wohnheim, bei den Partys und auf den Reisen während meines Austauschsemesters mehr gelernt habe als bei den Vorlesungen. Zumindest in Punkto „Interkulturelle Kommunikation“. Außerdem traute ich mich, Deutsch zu sprechen, denn Fehler machten wir Erasmus-Leute alle und das war gar nicht schlimm. Ich lernte ständig neue Wörter und Sprüche, die im Deutschunterricht nicht vorkamen. Zum Beispiel den Spruch des polnischen Freundes, als meine Tasche geklaut wurde: „Heute gestohlen, morgen in Polen.“ :)

Aus 5 Monaten sind nun 10 Jahre geworden. Wenn ich auf diese Jahre zurückblicke, muss ich gestehen, dass ich sie mir würde nicht anders vorstellen wollen. (Und an meinem Konjunktiv muss ich noch feilen...)

Donnerstag, 15. September 2016

Im Kajak durch Pronja und Basja-2

Und weil es so schön war, wiederholten wir unsere Kajak-Tour durch meine Heimat auch in diesem Jahr. Hier einige Video-Impressionen.



Donnerstag, 8. Oktober 2015

Swetlana Alexiewitsch: Eine bekannte Unbekannte

Vor knapp fünf Jahren habe ich sie zum ersten Mal in Minsk getroffen. Ich recherchierte für eine Sendung über die Kinder von Tschernobyl. Swetlana Alexiewitsch hat mich zu ihr nach Hause eingeladen. Ich war sehr aufgeregt: Gleich treffe ich mein journalistisches Vorbild, die Autorin des Buches „Die Chronik der Zukunft“, das ich als Teenager gelesen habe und das mich sehr beeindruckt und bedrückt hat. Alexiewitsch hat ein unglaubliches Gespür für Themen. Sie war in Tschernobyl, noch bevor das ganze Ausmaß der Katastrophe klar wurde. Ihr großes Talent: Sie bringt die Menschen dazu, ihr die Dinge zu erzählen, die sie womöglich von sich selbst verheimlicht haben.

Ich stand viel zu früh vor ihrer Tür. „Wieso kommen Sie so früh? Ich wollte noch was zum Tee für uns besorgen. Jetzt habe ich gar nichts Süßes da“, sagte sie. Wir sprachen wenig über Tschernobyl, mehr über die aktuellen Ereignisse: die niedergeschlagenen Proteste und die Inhaftierung von Hunderten Menschen. Nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 herrschte eine depressive Stimmung in Belarus. Alexiewitsch machte die Oppositionellen dafür verantwortlich, dass sie die Menschen auf den Hauptplatz und somit unbeabsichtigt in die Falle gelockt haben. Ich wunderte mich über diese Einschätzung. Sie entsprach nicht den schwarzweißen Bildern aus den staatlichen und oppositionellen Medien. Die große Wanduhr tickte laut: „Ticktack. Ticktack. Ticktack.“ Die Schriftstellerin schenkte mir vier ihre Bücher. Ich nahm sie stolz mit nach Deutschland mit.

Es war eine große Ehre und Freude für mich, ein Interview mit Swetlana Alexiewitsch zu machen. Gleichzeitig war ich irgendwie... entzaubert. Sie ist eine unerreichbare Größe – und doch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, dachte ich. So ähnlich erging es mir bei einer Lesung mit Swetlana Alexiewitsch vor 1,5 Jahren in Bonn. Manche ihre Antworten waren ungenau oder unglücklich formuliert, sie gaben Spielraum für Missverständnisse. Ihre Interviews führten mehrmals zu heftigen Diskussionen im Netz. Zum Beispiel ihre Aussage darüber, dass Belarussisch eine unreife Sprache sei. Unter oppositionellen, nationalbewussten Belarussen ist sie umstritten. Für die Regierung ist sie zu unbequem. In den staatlichen Medien wird über sie kaum berichtet: In den heutigen TV-Nachrichten wurde über ihre Aufzeichnung nur in einem Nebensatz erzählt. So bleibt sie für die Mehrheit der Belarussen eine Unbekannte.

Einmal besuchte mich meine Mutter in Köln. Ich kam nach Hause, meine Mama lag auf dem Sofa und weinte. In der Hand hielt sie ein Buch. Sie hat Swetlana Alexiewitsch in meinem Bücherregal entdeckt.