Donnerstag, 8. Oktober 2015

Swetlana Alexiewitsch: Eine bekannte Unbekannte

Vor knapp fünf Jahren habe ich sie zum ersten Mal in Minsk getroffen. Ich recherchierte für eine Sendung über die Kinder von Tschernobyl. Swetlana Alexiewitsch hat mich zu ihr nach Hause eingeladen. Ich war sehr aufgeregt: Gleich treffe ich mein journalistisches Vorbild, die Autorin des Buches „Die Chronik der Zukunft“, das ich als Teenager gelesen habe und das mich sehr beeindruckt und bedrückt hat. Alexiewitsch hat ein unglaubliches Gespür für Themen. Sie war in Tschernobyl, noch bevor das ganze Ausmaß der Katastrophe klar wurde. Ihr großes Talent: Sie bringt die Menschen dazu, ihr die Dinge zu erzählen, die sie womöglich von sich selbst verheimlicht haben.

Ich stand viel zu früh vor ihrer Tür. „Wieso kommen Sie so früh? Ich wollte noch was zum Tee für uns besorgen. Jetzt habe ich gar nichts Süßes da“, sagte sie. Wir sprachen wenig über Tschernobyl, mehr über die aktuellen Ereignisse: die niedergeschlagenen Proteste und die Inhaftierung von Hunderten Menschen. Nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 herrschte eine depressive Stimmung in Belarus. Alexiewitsch machte die Oppositionellen dafür verantwortlich, dass sie die Menschen auf den Hauptplatz und somit unbeabsichtigt in die Falle gelockt haben. Ich wunderte mich über diese Einschätzung. Sie entsprach nicht den schwarzweißen Bildern aus den staatlichen und oppositionellen Medien. Die große Wanduhr tickte laut: „Ticktack. Ticktack. Ticktack.“ Die Schriftstellerin schenkte mir vier ihre Bücher. Ich nahm sie stolz mit nach Deutschland mit.

Es war eine große Ehre und Freude für mich, ein Interview mit Swetlana Alexiewitsch zu machen. Gleichzeitig war ich irgendwie... entzaubert. Sie ist eine unerreichbare Größe – und doch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, dachte ich. So ähnlich erging es mir bei einer Lesung mit Swetlana Alexiewitsch vor 1,5 Jahren in Bonn. Manche ihre Antworten waren ungenau oder unglücklich formuliert, sie gaben Spielraum für Missverständnisse. Ihre Interviews führten mehrmals zu heftigen Diskussionen im Netz. Zum Beispiel ihre Aussage darüber, dass Belarussisch eine unreife Sprache sei. Unter oppositionellen, nationalbewussten Belarussen ist sie umstritten. Für die Regierung ist sie zu unbequem. In den staatlichen Medien wird über sie kaum berichtet: In den heutigen TV-Nachrichten wurde über ihre Aufzeichnung nur in einem Nebensatz erzählt. So bleibt sie für die Mehrheit der Belarussen eine Unbekannte.

Einmal besuchte mich meine Mutter in Köln. Ich kam nach Hause, meine Mama lag auf dem Sofa und weinte. In der Hand hielt sie ein Buch. Sie hat Swetlana Alexiewitsch in meinem Bücherregal entdeckt.

Dienstag, 15. September 2015

Deutschland bekommt Flüchtlinge – Russen bekommen Angst

„Es soll sehr schlimm sein mit dem Ansturm von Migranten in Deutschland“, sagt mein Vater vor einer Woche besorgt per Skype. Eigentlich wollte ich lieber über unsere Verwandten, seine Ernte und meine Heimatreise reden. Stattdessen sage ich: „Woher sollst du es wissen?“ Er habe das in den russischen TV-Nachrichten gesehen. Ich erkläre geduldig: Erstens sind das keine Migranten, sondern Flüchtlinge. Sie fliehen vom Krieg.

Zweitens bin ich begeistert vom Engagement der Deutschen, die sich für sie einsetzen. Eine Freundin macht beim Mutter-Kind-Treffen im benachbarten Flüchtlingsheim mit. Ein Bekannter aus Dortmund fragte an einem Samstagabend auf Facebook, ob jemand zum Hauptbahnhof kommen kann. Am nächsten Morgen höre ich im Radio, wie freundlich die Flüchtlinge dort empfangen wurden. Beim Sommerfest des CVJM um die Ecke betet man „für die Menschen auf der Flucht, die es zu uns geschafft haben“. Mein Vater ist sehr erstaunt.

In den russischen Medien wird das nämlich ganz anders dargestellt. Europa wird „von einer trüben, wütenden und hungrigen Welle von Migranten überrollt“, schreibt Schriftsteller Ewgenij Grischkowez. Diese Menschen würden nie europäische Gesetze befolgen, sie hätten keine Ahnung von den europäischen Werten. Er stellt fest: Europa geht unter. Die Kolumne steht in der Zeitung „Rossijskaja Gazeta“, dem Druckorgan der russischen Regierung. Sie gibt den Kurs vor.

Zwei Wochen, nachdem viele Tausende Flüchtlinge auf einmal nach Deutschland gekommen sind, kippt die Stimmung. Die Grenzen werden kontrolliert. Immer mehr Deutsche stecken sich wohl mit der Angst vor Flüchtlingen an. „Ich sehe es kritisch, dass so viele zu uns kommen“, sagt der Taxifahrer in Baden-Baden. Sie würden den deutschen Steuerzahlern zur Last fallen. Ich erzähle ihm von einem jungen geflüchteten Mann, den ich vor zwei Jahren beim Weihnachtsessen bei einer befreundeten Familie in Bonn kennengelernt habe. Er macht inzwischen eine Ausbildung zum Zahntechniker - und wird bald selbst Steuer zahlen. Der Taxifahrer bleibt stur. "Islam, Arbeitslosigkeit, andere Werte", wiederholt er aufgeregt. Und ich dachte, die europäischen Werte wären Toleranz und Offenheit. Bin ich naiv?

Samstag, 9. Mai 2015

Der Siegestag: 70 Jahre danach

В белорусском поселке Октябрьский Гомельской области сегодня изобрели машину времени.
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Im Städtchen Oktjabrski in Belarus konnte man heute eine Zeitreise machen.



















Freitag, 8. Mai 2015

Besuch im Kriegsmuseum in Minsk

Kurz vor dem 70. Jubiläum des Sieges im Zweiten Weltkrieg erinnert alles in Belarus an das große Ereignis: Straßenplakate, Fernsehspots, Lebensmittelverpackungen, Lottoscheine und sogar Einkaufstüten. Wenn gerade keine Panzer durch "Die Straße der Sieger" (Praspekt Peramoschzau) in Minsk rollen und die große Militärparade üben, wird sie ständig geputzt.


Das neue Museum der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges ist zu einem Mekka für Schüler, Familien, Rentner und russische Touristen geworden. Als ich es besucht habe, ist eine Gruppe von Soldaten hineinmarschiert.


Das Museum wurde letztes Jahr von den Präsidenten Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin persönlich eröffnet. Ein großer Flachbildschirm in der Eingangshalle zeigt die Bilder von der Eröffnung.
Der Souvenirladen des Museums


Besonders beliebt bei den Besuchern ist die Halle mit der Kriegstechnik. Viele Familien bleiben hier etwas länger. Kinder spielen Krieg. Mütter machen Selfies vor den Wachsfiguren. Väter erklären ihren Töchtern sowjetische Waffen.



Im Museum gibt es viele Flachbildschirme und andere moderne Elemente, wie zum Beispiel die Projektion des Filmes über die Brester Festung.


Mich beeindrucken am meisten die kleinen echten Gegenstände aus dem Krieg. Zum Beispiel eine selbst gemachte Stoffpuppe aus einem Kinderheim. Sie erinnert mich an meine Kindheit. Meine Oma Anja, die auf dem Land lebte und den Krieg als Kind erlebte, machte mir eine ähnliche. Ich mochte sie. Die Puppe hatte zwar kein echtes Gesicht, dafür war sie ganz weich und kuschelig.
"Dem tapferen Kämpfer von Tanja"

Mulmiges Gefühl bekomme ich beim Betrachten der Metalltrage, auf der die Asche der im Ofen verbrannten Menschen auf den Feld in Trostenez getragen wurde. Sie wurde als Düngemittel verwendet.

Trostenez war das größte NS-Lager auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion. Es liegt am Stadtrand von Minsk.

An der Wand sind Baracken und graue Menschenfiguren gezeichnet. Davor steht ein Gitter.  Drüber hängt ein Schild: "Zutritt zum Lager verboten. Es wird ohne Anruf geschossen." Soldaten machen ein Foto vor der Wand.


Das Museum hat 10 Räume. Meine Zeit reicht leider nicht, um alles in Ruhe zu betrachten. Den letzten Raum möchte ich aber unbedingt sehen - der Saal des Sieges. Ich bin überrascht: Es ist eine gläserne Kuppel. Es gibt keine Exponate.


Die Idee des Architekten scheint klar: Den Sieg als etwas Großes, Heiliges, in den Himmel Ragendes darzustellen. Ich fühle mich wie in einer Kirche. Die Staatsfahne anstelle des Altars. An der Wand steht: "Die Heldentat des Volkes soll ewig leben."

Irgendetwas stört mich. Ist es die rote sowjetische Fahne, die draußen auf der Kuppel weht? Ist es der Marmorboden, der kalt und ungemütlich wirkt? Lebe ich zu lange im Westen und verstehe die Ästhetik der Heimat nicht mehr? Oder stört mich, wie unsere Geschichte durch die Staatsideologie instrumentalisiert wird? Ich verlasse das Museum mit gemischten Gefühlen.

P. S. Mein zehnjähriger Neffe war vor kurzem auf der Klassenfahrt im Kriegsmuseum. Die Schüler sind um 6 Uhr morgens von unserer Kleinstadt nach Minsk gefahren. Acht Stunden Busfahrt haben sie auf sich genommen, um das Museum zu sehen. Ich frage ihn, was ihm am meisten gefallen hat. "Panzer", sagt er. Nach ein paar Sekunden: "Doch nicht! Die Mittagspause in McDonald's."

Dienstag, 13. Januar 2015

Zwischen Weihnachtstisch und Wechselstube

"Wechselt bloß kein Geld in einer Wechselstube", ist eine der ersten Phrasen, die wir Ende Dezember nach der Ankunft in Minsk hören. Devisen sind viel zu begehrt, um sie an den Staat abzugeben. Menschen stehen Schlange in den Banken, um US-Dollar oder Euro zu kaufen. Sie sind bewehrte Anker in den Krisenzeiten. Die krisenerprobten Belarussen wissen: Bald geht es abwärts. Die schwächelnde Wirtschaft in Russland wird die von ihr abhängige belarussische Wirtschaft nach sich ziehen.
Autokauf in Russland 

Um sein Erspartes nicht zu verlieren, entscheidet sich Andrej (Name geändert), ein Auto zu kaufen. Er hat gehört, dass die PKWs in Russland wegen der Rubel-Abwertung viel günstiger geworden sind als in Belarus. Der Angestellte einer staatlichen Sicherheitsfirma besorgt ein Zugticket und fährt nach Moskau. Dort stellt er fest, dass die im Internet angekündigten Preise in den Autohäusern nicht mehr gelten: Sie wurden wegen der starken Nachfrage aus dem Nachbarland erhöht. Andrej kauft eine Zeitung und findet dort ein paar interessante Privatanzeigen. Der Verkäufer des fast neuen Peugeot 408 will umgerechnet knapp 12 000 Dollar dafür haben. Die Summe soll in den russischen Rubeln ausgezahlt werden: Im Unterschied zu Belarussen haben die Russen den Glauben an ihre nationale Währung trotz derer Abwertung (noch) nicht verloren.

Während Andrej in der Schlange vor der Wechselstube wartet, geht die Jahrespresskonferenz von Putin im Fernsehen zu Ende. Plötzlich ändern sich die Zahlen auf dem elektronischen Tableau: Der Rubelkurs steigt leicht an. „Ich rechne im Kopf nach, dass ich auf der Stelle um die 500 Dollar verliere“, sagt Andrej. „Hätte Putin bloß ein wenig länger geredet!“ ärgert er sich. Grundsätzlich ist er aber zufrieden, dass er sein Geld gut angelegt hat.

Der Wechselkurs DLR/EUR um den Jahreswechsel in Belarus. Quelle: tut.by
Haushaltsgeräte als Investition

Glück hatte auch meine Freundin Alesja. Im Dezember bekommt sie die einmalige Prämie für die Geburt ihres Sohns – umgerechnet ca. 1000 Euro (nach dem Wechselkurs von damals). Die junge Mutter entscheidet sich, das Geld in die Haushaltsgeräte zu investieren. Sie bestellt einen Backofen und eine Spülmaschine in einem Online-Shop. Am nächsten Tag erlebt sie Schock. „Die Preise haben sich verdoppelt!“ Der Bestellvorgang ist zwar bereits abgewickelt, aber das Geld ist noch nicht überwiesen. Alesja ruft im Laden an. Zum Glück bleiben die Konditionen für ihren Kauf unverändert. "Ich habe mich auf die versprochene kostenlose Lieferung verzichtet und bin schnell losgefahren, um meine Geräte abzuholen!" erzählt sie. So wie Alesja kaufen viele Belarussen  neue Haushaltsgeräte auf Vorrat: Vor Silvester und Weihnachten sind Regale in den Elektronik-Märkten leer.
Menschen stehen Schlange vor der Wechselstube in einem Geschäft in Minsk
Auf dem Tisch stehen typischer Silvester-Salat Olivier und Schnittchen mit rotem Kaviar. Wir stoßen auf das neue Jahr. "2015 wird ein schwieriges Jahr", sagt Artjom. Warum? Vor den Präsidentenwahlen werden doch immer Geschenke verteilt, erwidere ich. "Ja, das Geld wird von uns genommen und an die Rentner gegeben", sagt der junge Unternehmer aus Minsk. Seine Frau meint, dass Lukaschenko sowieso gewinnen wird. "Besonders jetzt, mit dem Blick auf die Ukraine werden viele ihn wählen", sagt Julia. Irgendwie habe Lukaschenko recht, fügt sie hinzu: "Hauptsache, es gibt keinen Krieg." Das ist wohl die Formel, die Mentalität meiner Landsleute am besten beschreibt. "Aby ne bylo vajny."