Freitag, 26. April 2013

Mein Tschernobyl-Paradox


Ein Leben ohne Tschernobyl kenne ich nicht. Ich war ein Jahr alt, als der Reaktor explodierte und meine Heimatstadt im Osten von Belarus mit der Radioaktivität verseuchte. Doch es war bei uns nie ein Thema. Ich habe erst seit ein paar Jahren angefangen, mich damit intensiv zu beschäftigen. In Deutschland. Wahrscheinlich musste ich mich weit genug davon entfernen, um mich dem Thema annähern zu können.

Nach einem Uni-Seminar im Dezember 2008 entdeckte ich auf dem Weihnachtsmarkt in Moers einen Stand, bei dem Schüler selbstgebackene Waffeln verkauften. Darauf stand: „Hilfe für Weißrussland“. Ich war verblüfft.  Denn als Kind habe ich selbst davon profitiert. Wir bekamen in den 1990ern regelmäßig humanitäre Hilfe aus dem Westen: Essen, Kleidung, Medikamente. Ich gab der Moerser Schülerin eine Münze. Sie drückte mir eine wohl duftende Waffel in die Hand und sagte: „Das kommt den Kindern in Weißrussland zugute, ein großer Teil des Landes ist immer noch verstrahlt. Wissen Sie das?“ Und wie!

Ich kann mich daran erinnern, dass ich als Kind ein Buch hatte, deren Figuren die radioaktiven Isotope waren. Sie hießen Zäsium, Strontium, Polonium. Sie schossen mit Pfeil und Bogen in die Kinder, die ihre Hände nicht wuschen. Das Buch war schön gemacht: große farbige Bilder, hochwertiges Papier. Ich hasste es. Es gab natürlich viele schöne Dinge, die wir dank Tschernobyl hatten: Mahlzeiten in der Schule, Geschenke, Aufenthalte in den Sanatorien… Diese ganzen Erinnerungen kamen hoch, als ein Kollege mich bat, die Geschichte für einen Blog aufzuschreiben

Zwei Jahr später produzierte ich eine Sendung über die Kinder von Tschernobyl. Es war spannend, Interviews mit meinen Schulfreundinnen zu diesem Thema zu führen. Ich bin extra deswegen aus Deutschland nach Belarus gefahren. Als ich noch da lebte, war das Thema für uns nie interessant.

Auch in diesem Jahr wurde ich von der Redaktion beauftragt, ein paar Geschichten zum Jahrestag von Tschernobyl zu machen. Im Interview mit dem Leiter von „Chernobyl Children’s Lifeline“, Dennis Vystavkin, sprachen wir darüber, warum die Regierung in Großbritannien die kostenlosen Visa für die Tschernobyl-Kinder vor kurzem abgeschafft hat. In einem anderen Artikel geht es um die Schicksale der Liquidatoren – jener Menschen, die 1986 in Tschernobyl aufräumten und damit noch dramatischere Folgen verhinderten. 

Jakob Stetinger, der aus Kasachstan kommt und seit 20 Jahren in Deutschland lebt, war auch ein Liquidator. Als er sich bei den deutschen Behörden erkundigt hatte, ob er deswegen finanziell unterstützt werden kann, wurde ihm gesagt, dass Deutschland für die Fehler anderer Länder nicht zahlen muss. „Wir haben doch ganz Europa gerettet“, sagt Stetinger.

Jakob Stetinger (54), lebt in Wuppertal. Er arbeitete im November und Dezember 1986 als Fahrer in Tschernobyl. Es war eine  "zivile Dienstreise".

Sein Ausweis für die Tschernobyl-Zone und die Einladung, die Stetinger im Sommer 1986 bekommen hat, als er in der Stadt Stepnogorsk in Kasachsan lebte (s. Foto unten)
"Geehrter Genosse! Wir laden Sie zur feierlichen Versammlung ein, die dem Erledingen der Regierungssaufgabe gewidmet ist - den Aufräumarbeiten im Tschernobyler Atomkraftwek von W.I. Lenin."

Für die Arbeit in Tschernobyl hat Jakob Stetinger 1364 Rubel pro Monat bekommen. Es ist 10 Mal mehr als der damalige Durchschnittslohn in der UdSSR. Doch kann man gesundheitliche Schäden mit Geld ermessen? Stetinger wurde bereits drei Mal operiert. Ihm wurde ein Tumor in der Mundhöhle entfernt.


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