Vor knapp fünf Jahren habe ich sie zum ersten Mal in Minsk getroffen. Ich recherchierte für eine Sendung über die Kinder von Tschernobyl. Swetlana Alexiewitsch hat mich zu ihr nach Hause eingeladen. Ich war sehr aufgeregt: Gleich treffe ich mein journalistisches Vorbild, die Autorin des Buches „Die Chronik der Zukunft“, das ich als Teenager gelesen habe und das mich sehr beeindruckt und bedrückt hat. Alexiewitsch hat ein unglaubliches Gespür für Themen. Sie war in Tschernobyl, noch bevor das ganze Ausmaß der Katastrophe klar wurde. Ihr großes Talent: Sie bringt die Menschen dazu, ihr die Dinge zu erzählen, die sie womöglich von sich selbst verheimlicht haben.
Ich stand viel zu früh vor ihrer Tür. „Wieso kommen Sie so früh? Ich wollte noch was zum Tee für uns besorgen. Jetzt habe ich gar nichts Süßes da“, sagte sie. Wir sprachen wenig über Tschernobyl, mehr über die aktuellen Ereignisse: die niedergeschlagenen Proteste und die Inhaftierung von Hunderten Menschen. Nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010 herrschte eine depressive Stimmung in Belarus. Alexiewitsch machte die Oppositionellen dafür verantwortlich, dass sie die Menschen auf den Hauptplatz und somit unbeabsichtigt in die Falle gelockt haben. Ich wunderte mich über diese Einschätzung. Sie entsprach nicht den schwarzweißen Bildern aus den staatlichen und oppositionellen Medien. Die große Wanduhr tickte laut: „Ticktack. Ticktack. Ticktack.“ Die Schriftstellerin schenkte mir vier ihre Bücher. Ich nahm sie stolz mit nach Deutschland mit.
Es war eine große Ehre und Freude für mich, ein Interview mit Swetlana Alexiewitsch zu machen. Gleichzeitig war ich irgendwie... entzaubert. Sie ist eine unerreichbare Größe – und doch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, dachte ich. So ähnlich erging es mir bei einer Lesung mit Swetlana Alexiewitsch vor 1,5 Jahren in Bonn. Manche ihre Antworten waren ungenau oder unglücklich formuliert, sie gaben Spielraum für Missverständnisse. Ihre Interviews führten mehrmals zu heftigen Diskussionen im Netz. Zum Beispiel ihre Aussage darüber, dass Belarussisch eine unreife Sprache sei. Unter oppositionellen, nationalbewussten Belarussen ist sie umstritten. Für die Regierung ist sie zu unbequem. In den staatlichen Medien wird über sie kaum berichtet: In den heutigen TV-Nachrichten wurde über ihre Aufzeichnung nur in einem Nebensatz erzählt. So bleibt sie für die Mehrheit der Belarussen eine Unbekannte.
Einmal besuchte mich meine Mutter in Köln. Ich kam nach Hause, meine Mama lag auf dem Sofa und weinte. In der Hand hielt sie ein Buch. Sie hat Swetlana Alexiewitsch in meinem Bücherregal entdeckt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen